Jonas Burgwinkel „Deadeye“ | 14.10.2023

Neuburger Rundschau | Reinhard Köchl
 

Was soll man machen, wenn gute Musik einfach so auftaucht, ohne Vorwarnung, und nicht zum ersten Mal das alte Wertesystem völlig auf den Kopf stellt? In solchen Fällen gilt es, den Moment zu genießen und zur Kenntnis zu nehmen, dass sich immer wieder Türen öffnen, wo man sie nicht vermutet – wie im Falle das fulminanten Trios „Deadeye“, das den Birdland Jazzclub am Samstag im Sturm eroberte, das Publikum zu Begeisterungsstürmen hinriss und einen nachhaltigen Eindruck hinterließ.

Fast wäre man verleitet, von einem der besten Konzerte der vergangenen zehn Jahre im Hofapothekenkeller zu schreiben, wobei dies natürlich in erster Linie eine Geschmacksfrage sein muss. Aber ganz unabhängig davon gilt es objektiv festzuhalten, dass sich hier mit dem englischen Organisten Kit Downes – ein hoch geschätzter Musiker mit einem Vertrag beim weltweit renommierten ECM-Label – dem deutschen Wunder-Schlagzeuger Jonas Burgwinkel und dem unglaublich einfallsreichen niederländischen Gitarristen Reinier Baas drei Instrumentalisten auf einer Ebene treffen, auf der alles möglich scheint.

Da gibt es keine Stilgrenzen mehr, keine lästigen Schubladen, die benutzt werden, um Musik vermittelbarer – oder schlicht verkaufbarer – wirken zu lassen. Die drei von „Deadeye“ nehmen sich einfach, was ihnen gefällt, bringen ihre Vorlieben und Präferenzen mit, seien es schnipsende Swing-Stücke, brettharte Rocknummern, fluffige Soultexturen, traditionelle britische Folklore, klassische Themen des 20. Jahrhunderts, psychodelische Soundflächen, tanzbaren brasilianischen Bossa, Ennio Morricone, Lili Boulanger, Richard Strauss, Wes Montgomery und MF Doom. Es wäre einfach, nur eine dieser Pralinen herauszupicken und es ein Konzert oder eine Platte lang zu bedienen, um sich ein paar populistische Applaus-Streicheleinheiten abzuholen. Downes, Burgwinkel und Baas schrauben jedoch mithilfe ihrer eigentlich traditionellen Besetzung aus Hammondorgel, Drums und Gitarre an allem herum und kreieren ein fremdartiges und doch irgendwie vertrautes, extrem verführerisches Gebräu, das Klasse hat und von enormer kreativer Fantasie zeugt.

Knackpunkt ist dabei das mal dezente, mal wilde Fauchen der Hammond-Orgel mit ihrem „Vintage-Sound“, den die drei wie ein Prisma für ihre aufregend gegenwärtige Musik verwenden. Formal diszipliniert, aber mit unbändiger Spielfreude werfen sie sich in vertrackte Grooves und wilde Jams, verbinden die Stücke zu abenteuerlichen, aufwändigen Suiten voll energetischer Höhepunkte. Die Orgel erweist sich dabei als große Klammer zwischen den Jazzheroen Jimmy Smith, Jack McDuff, den Fusion-Monstern Larry Young und Jan Hammer oder Rockgöttern wie Rick Wright (Pink Floyd) und Jon Lord (Deep Purple). Kit Downes meistert diese Schwellen souverän, clever und inspiriert, während Jonas Burgwinkel selten rocklastiger als in „Stingaloon“ oder in „The Dance Of Princess Discombobulatrix“ klang und Reinier Baas selbst im irrsten Tempo noch exakte Singlenotes produziert und flirrende, noch nie gehörte Sounds erfindet.

Einen außergewöhnlichen Moment gibt es außerdem noch in der ersten Zugabe. Da interpretieren „Deadeye“ den amerikanischen Spiritual „The Wayfaring Stranger“ auf derart simple, reduzierte und berührende Weise, dass einem vor Rührung fast der Mund offen stehen bleibt. Der perfekte Abschluss eines rauschhaften Festes voller ätherischer Texturen, wogender, höchst tanzbare Rhythmen und kantiger Melodien. Bitte unbedingt wiederkommen!