Wolfert Brederode & Matangi Quartett & Joost Lijbaart
„Ruins And Remains” | 31.05.2024

Donaukurier | Karl Leitner
 

Wer sich vorher informiert, tut sich leichter mit der Rezeption. Das gilt ganz besonders dann, wenn solch außergewöhnliche Musik erklingt wie an diesem Abend im Birdland Jazzclub in Neuburg. Aus den Niederlanden haben sich für ein gemeinsames Konzert der Pianist Wolfert Brederode, der Perkussionist Joost Lijbaart und das Matangi Quartet mit den beiden Geigerinnen Maria-Paula Majoor und Hannelore DeVuyst, dem Bratschisten Karsten Kleijer und dem Cellisten Arno van der Vuurst angekündigt, im Gepäck Broderode’s 14teilige Suite „Ruins And Remains.“

Es handelt sich dabei, wie man glücklicherweise im Programmheft nachlesen kann, um das Ergebnis „einer Auftragskomposition zum 100. Jahrestag der Beendigung des Ersten Weltkriegs“, wobei das gut anderthalb stündige Werk „am 11. November 2018, dem sogenannten Armistice Day“ erstmals aufgeführt wurde. Wenn man das weiß, macht nicht nur der Titel „Ruins And Remains“, zu deutsch: „Ruinen und Überreste“, Sinn, sondern auch die Musik, in der programmatische Elemente, Jazz und auch die zeitgenössische Klassik zusammenfließen zu einem absolut eigenständigen Soundtrack zur Katastrophe zwischen dem Attentat von Sarajevo und dem Vertrag von Versailles.

Der kompositorische Zyklus aus Broderode’s Feder beginnt mit dem Ticken einer Uhr, einer Zeitbombe, die Pauke sorgt für Kanonenfeuer, das aus der Ferne zu hören ist, vor dem inneren Auge entstehen Bilder totaler Zerstörung, zerschossener, menschenleerer Orte. Dissonanzen verkünden Verlust und Tod, gesichtslose Soldaten marschieren am geistigen Auge vorüber, Unheil verkündende Akkorde unterlegen das Inferno, Ostinati zerren an den Nerven und immer wieder schwenkt die innere Kamera über Trümmerfelder. Nicht umsonst durchzieht mit „Ruins I – Ruins IV“ ein roter Faden die Suite.

Selten, aber doch deutlich hörbar ist bisweilen so etwas wie zaghafter Optimismus, ab und zu meint man einen Hoffnungsfunken glimmen zu sehen und gegen Ende verkündet ein zuversichtli- ches, kräftiges Finale Wiederaufbau und Neubeginn. Wäre da nicht als Schlusspunkt wieder diese erbarmungslose Uhr, die bis zum Fade Out weiter tickt. Ob als Hinweis auf den Faktor Zeit, der bekanntlich alle Wunden heilt, auch die von damals, oder als akustische Warnung angesichts einer erneuten Zeitbombe in unseren Tagen und der sich daraus ergebenden Konsequenzen, bleibt offen. Ginge es nur um Gemetzel, Scharmützel und explodierende Granaten, müsste die Musik laut und heftig sein. Ist sie aber ganz und gar nicht, denn Trauer und Verlust sind leise, offenbaren Verletzlichkeit und Traumatisierung.

Dass „Ruins And Remains“ nicht für alle Zeiten in dieser Form Gültigkeit haben wird, liegt auf der Hand. Die Freiheit, sein Werk ständig zu verändern, fordert Brederode als Jazzmusiker denn auch deutlich ein, auch wenn man bei diesem sehr speziellen Werk erst mal gar nicht zwangsläufig an herkömmliche Formen des Genres denkt. Den Abend umwehen immer wieder Düsternis, Schwere und Dramatik, die das Publikum aber dermaßen faszinieren, dass man, ehe der Schlussapplaus losbricht, hören könnte, wie die berühmte Stecknadel zu Boden fällt. Fürwahr ein ganz besonderer Abend.