Stephan Holstein’s Swing Shift & Titilayo Adedokun | 08.03.2024

Neuburger Rundschau | Reinhard Köchl
 

Holstein geht immer, zu jeder Jahreszeit, in fast jedem Kontext. Der mittlerweile 61-jährige, vielseitig begabte Klarinettist mit dem besonderen Bezug zu Neuburg ist seit langem ein natürlicher Garant für einen ausverkauften Hofapothekenkeller, weil er seinen Vortrag stets sympathisch und charmant präsentiert und so für ein ungetrübtes, entspannt-swingendes Jazz-Vergnügen sorgt. Dass Stephan Holsteins 2024er-Gastspiel im Birdland-Jazzclub da keine Ausnahme von der längst gängigen Regel darstellen muss, versteht sich beinahe von selbst. Keine freien Plätze mehr, viele alte Freunde da, die den Werdegang des ehemaligen Augsburgers seit den 1990er Jahren wohlwollend begleiten, beste Stimmung – und dann doch ein Novum, mit der keiner im Gewölbe so richtig gerechnet hat.

Bis dato hatten alle Stephan Holstein als veritablen Mainstream-Bläser in Erinnerung; gefällig, irgendwie berechenbar und, mit Verlaub, auch ein bisschen brav. Wer Ecken und Kanten suchte, der war bei ihm definitiv an der falschen Adresse. Nun jedoch präsentiert er zum ersten Mal seine neue Formation „Swing Shift“ (Swing-Schicht), und plötzlich scheinen sich alle alten Attribute im Laufe von hinreißenden zwei Stunden in Luft aufzulösen. Denn Holstein hat nun endlich die Musiker an seiner Seite, die zu ihm passen wie das Mundstück aufs Saxofon, hochkarätige Instrumentalisten und Freunde, die ihn nicht im Gefälligkeitsmodus zurücklassen, sondern wachrütteln. Zum einen der nach 20 Jahre in den USA zurückgekehrte Augsburger Pianist Heinz Frommeyer, der ein wohldosiertes Feuerwerk auf der Klaviatur abbrennt, jedes Solo extrem zurückhaltend beginnt, um dann unwiderstehlich Gang für Gang nach oben zu schalten bis zum Finale furioso. Und dann wären da vor allem Bassist Thomas Stabenow und Drummer Oliver Mewes, ein Rhythmusduo, wie es in dieser Exzellenz bis dato nur wenige im Hofapothekenkeller gab.

Stabenow nimmt diesmal die Rolle des Primus inter pares dieses verblüffenden Konzeptes ein, lässt große, satte Groove-Bäume wie weiland Ray Brown aus dem Boden wachsen, während Mewes, eigentlich als Oldtime-Schlagzeuger bei den „Echoes Of Swing“ bekannt, auch in modernerer Umgebung den Unterschied macht. Das hier ist knackiger und wirklich „echter“ Swing, hin und wieder garniert mit ein paar „Bomben“, so nennt man die knallenden Schläge auf die Hi-Hat. Und das andere? Halt auch irgendein Rhythmus… In dieser flirrenden Gemengelage ist die hinreißende Sängerin Titilayo Adedokun aus Nashville/Tennessee mit ihrer bestechenden Ausdruckskraft und Vielseitigkeit, etwa in Ellingtons „Sophisticated Lady“ oder „In The Wee Small Hours Of The Morning“ genau der richtige Farbtupfer.

Und Stephan Holstein? Der blüht regelrecht auf – dank seiner Swing-Schicht. An seinem Hauptinstrument, der Klarinette sowieso, wo er zum wiederholten Mal seine Ausnahmestellung unter Beweis stellt und launig den Unterschied zwischen der Bassklarinette (die er gleich mehrere Titel lang feinnervig spazieren führt) und einem Alphorn (das er natürlich nicht spielt!) erklärt. Richtig verblüffend ist allerdings seine längst überfällige Entpuppung am Tenorsaxofon, das bei ihm längst nicht mehr wie ein Allerweltsinstrument zum Fünf-Uhr-Tee klingt. Mit heißerem, angerautem, laszivem Ton konstruiert er leidenschaftliche Schussfahrten auf der „Route 66“, heizt bei Ben Websters „Holloring At The Watkins“, das er gleich in „Holloring At The Birdland“ umtauft, ein, dass die Leute schon vom bloßen Zuhören Schweißausbrüche bekommen, oder feuert bei „Bye Bye Blackbird“ ein testosteronhaltiges Solo nach dem anderen ab.

Holstein geht wirklich immer. Aber die Version des Jahres 2024 würde man am allerliebsten vakuumverpackt konservieren und bei Bedarf immer wieder hervorholen. Welch ein Genuss, welch eine Überraschung!